ἀρετή = WESENSMACHT!
Der altgriechische Begriff ἀρετή (Arete) ist für das Verständnis der vorsokratischen und der klassischen griechischen Ethik von kaum zu überschätzender Bedeutung. Trotzdem tappen wir hier noch immer weitgehend im Dunkeln. Einerseits ist dies nicht unsere Schuld. Sogar Sokrates selbst hielt diesen Begriff für nicht voll auflösbar. Und schon im alten Griechenland hat dieser Begriff eine wechselhafte Geschichte und kann sehr viel bedeuten: ein scharfes Messer etwa hat Arete, denn es ist tauglich für seine Aufgabe. Etymologisch leitete die griechische Philologie den Begriff lange Zeit ab von “areskein” (befriedigen, gut finden, gefallen). Erst in letzter Zeit hält die Forschung dies für einen Irrtum. Der könnte daher rühren, dass der christliche Tugendbegriff bereits im Mittelalter die ursprüngliche Bedeutung von Arete ( = “Tugend”) ins beinahe Gegenteil pervertiert hat.
Philologen suchten also nach einer Herkunft von Arete, die sich mit dem christlichen Tugendbegriff decken würde. Tatsächlich scheint aber Arete, so vermutet die Forschung heute, vom Komparativ von agathos = “gut”, areion, abzustammen. Was uns nur weiterhilft, wenn wir wiederum “gut” “jenseits von Gut und Böse” verstehen, also eher von guter Qualität und nicht in irgendeiner Weise moralisch gut im heutigen Verständnis von Ethik. Wenn nun also die “Tugendethik” das Komparativ von “gut” ausdrückt, dann muss man wohl wiederum verstehen, dass auch im antiken Griechenland das Zeitverständnis eher zyklisch war und “besser” nicht ein statischer, sondern dynamischer Begriff ist. Tugend als “besser” wäre nicht zu verstehen im Sinn von “besser, als andere”, sondern als wesentliche Wachstumsorientierung. — Hier lauert aber schon wieder das nächste Missverständnis. Denn den alten Griechen lag nichts ferner, als moralisch “bessere Menschen” werden zu wollen. Für Sokrates als klaren Vorläufer des Kynismus war ein tugendhaftes Leben das größte Ziel eines jeden Menschen. Zumindest der platonische Sokrates sah aber darin genau das, was wir heute als “persönliches Wachstum” bezeichnen würden, oder als “lebenslanges Lernen” etc. Das tugendhafte Leben wäre also ganz klar das Streben nach Selbstverwirklichung, als lebenslanger Prozess, so wie es heute etwa die Gestalttherapie sieht. Ob dies so vom historischen Sokrates oder vom Märchenerzähler Platon stammt, wird wohl für immer im Dunkeln bleiben. Aber es ist plausibel, genau das zu unterstellen.
Antisthenes, der zu Lebzeiten berühmtere Schüler von Sokrates als Platon und Gründer des Kynismus führt dies weiter aus. Jedenfalls, und das ist sehr wichtig: führt ein tugendhaftes Leben, also der Weg der Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung dazu, dass wir Eudaimonia erreichen.
Wir begreifen durch das “gefährliche Leben” womit Nietzsche genau das meint, nämlich ständiges Wachstum, (“trau keinem Gedanken, der dir im Sitzen kommt”) nicht nur, was ein tugendhaftes Leben ist. Sondern indem wir es praktisch führen, werden wir immer stärker, kommen unserer Eudaimonia immer näher, je näher wir eben unserem Wesen kommen.
Das führt dann irgendwann dazu, dass diesem Praktiker der Tugend ein tugendwidriges Verhalten kaum mehr möglich ist. Stell dir vor, du solltest plötzlich Scheiße fressen. Du müsstest kotzen oder? Du könntest! es nicht. So wie wir nicht etwas essen können, das wir widerlich finden, so finden wir es dann auch widerlich, unser eigenes Wesen zu verraten. Das kann, wie bei Sokrates oder Jesus, so weit gehen, dass wir lieber sterben, als uns selbst zu verraten. Mit der täglichen Praxis eines tugendhaften Lebens (Vorsicht! nicht vergessen, dass damit eben das gefährliche Leben der Selbstverwirklichung als Glücksstreben gemeint ist und ganz sicher nicht ein “tugendhaftes” Leben, wie es Staaten und Staats-Religionen uns aufzwingen wollen) wachsen wir also so weit, dass wir tatsächlich auf äußere Güter leicht verzichten können, doch niemals auf unsere Selbstverwirklichung. Kynismus und auch Stoizismus sind keine Lehren, wie immer wieder irrtümlich angenommen, die dich zum “Verzicht auf äußere Güter” drängen wollen. Sondern durch die radikale Fokussierung auf Wachstum, auf Selbstverwirklichung, verlieren solche äußeren Güter zunehmend an Wichtigkeit. Die Anekdote, dass Diogenes das Herrscher-Versprechen, er könne sich wünschen, was er wolle, damit beantwortet hat, der Herrscher möge ihm aus der Sonne gehen, meint genau das: ihm war seine Eudaimonia, sein “inneres Glück” im Hier und Jetzt, wichtiger, als alles Gold der Welt.
Was also meint Tugendethik? Genau das: einen ständigen Machtzuwachs und zwar der natürlichen Gewaltbereitschaft, der natürlichen Macht, den ständigen Prozess der Entwicklung und Aktualisierung des eigenen Wesen.
Das mit einem Wort auszudrücken, schlage ich Wesensmacht vor. Nicht “Wissen”, — WESEN IST MACHT.